Geschehen lassen
Viele Dinge erreichen wir nur durch unseren Willen, durch umsetzende Taten, durch Aktivität - diese Lektion haben wir gelernt. Unser Verstand und unsere aufgeklärte Logik rechnen nicht damit, dass es Wachstum gibt ohne menschliche Initiative. Aber die Natur lehrt uns, dass es nur die Saat braucht und es gedeiht von selbst. Es gibt diese Art von Dingen - und ich vermute, es sind die wichtigsten und ewigen - die unser willentliches Geschehen lassen erfordern.
Wir geben zwar einen Anstoss, aber dann entwickelt sich etwas selbständig und im eigenen Tempo. Wir können es nicht forcieren oder antreiben. So verhält es sich mit Menschenleben, Menschenherzen. Wenn wir realisieren, dass alle Prozesse mit Menschen verwoben sind, sollten wir achtgeben, dass wir nicht zu Treibern werden.
Es ist uns Zeit geschenkt, Zeit der Ablösung und Orientierung, Zeit, um innere Distanz zu gewinnen, Zeit in der sich etwas setzen und klären kann, Zeit der Vertiefung, Zeit, in der Gefühle nachkommen können, Zeit des Ruhens und der Regeneration, Zeit der Inspiration, Zeit des Sehens und Verstehens, der Ergründung und Erkenntnis.
Heute braucht es in unserem Umfeld einen bewussten Entscheid, die Hetze zu stoppen, wenn wir nicht mit den Stresspatienten in der Bournout-Klinik enden wollen. Aber es geht noch um mehr. Wir wollen ja nicht nur überleben, sondern leben in Fülle.
Gerüche, Farben, Berührung - alles was unser Leben so reich macht, braucht Zeit. Empfindsamkeit braucht Zeit - Wunden brauchen Zeit für Heilung, geschundene Haut braucht Zeit, dass sie wieder fühlt, das Rad braucht Zeit, bis es aufhört zu drehen, empfinden braucht Zeit, Liebe braucht Zeit. Wir müssen es geschehen lassen: Warten, zurücklehnen, uns hingeben.
Es geht uns zu langsam, wir wollen jetzt sofort ein gutes Gefühl und Ablenkung vom Druck. Der Feierabend ist zu kurz. Wir greifen zu Verstärkungsmitteln die intensiv, laut und penetrant in unsere abgestumpften Sinne dringen und sie noch mehr betäuben. Es braucht einen starken Entschluss, einen Willensakt, das Zeitfenster zu öffnen, in dem wir die Ruhe an uns wirken lassen, ein bewusstes Fasten. Erst müssen wir die Stille aushalten, bevor sie uns zur Quelle wird.