Überfluss
Die Erde leistet sich eine unglaubliche Verschwendung von Kostbarkeiten - es passt so gar nicht zu unserer aktuellen Einsparungsziehung. Da liegen Schätze an Orten, wo sie kaum einer sieht und niemandem nützen, Kunst liegt einfach auf der Strasse herum, einmalige Szenen von herrlichen Farben und Formen vergehen, ohne festgehalten zu werden und Ressourcen ergiessen sich sinnlos.
Jeden Oktober kann ich es fast nicht ertragen, dass diese wunderschönen Herbstblätter ungesehen und ohne Lob im Schmutz verwesen. Und im Frühling können wir kein einziges davon finden - das macht sie noch kostbarer. Ich wollte sie als Galeriekollektion auf Grossleinwand malen, um ihnen Ehre zu erweisen und der Welt zu zeigen, welch hohe Kunst im Strassengraben liegt: Feueradern und Horizonte von Bergen und Städten, Küstenstreifen und Zackenränder wie gefährliche Sägen in schreienden Farbverläufen, meditative Kreise und Punkte wie Inseln in Lava.
Ungesehen, ohne Reporter und VIP's, findet täglich die extravaganteste Modeschau statt: Die Gala der tropischen Fische. Sie präsentieren sich ohne Publikum in ausgefallenen Luxusdesigns in zeitlosen intensiven Farbpaletten. Punkte, Linien, Streifen, allerlei Formen und Repetitionen; Konzepte von Wiederholung und Weiterentwicklung, von Nuancen und Kontrasten, Schärfe und Unschärfe. Kein Label, kein Copyright, kein Markt - in der Verborgenheit feiern sie ihre Schönheit.
Wo ist der schönste Ort auf der Welt? Schon im Umkreis von 5 Kilometern wüsste ich wunderbare Plätze bei Waldrändern, Lichtungen, Hügellandschaften, Aussichtspunkten - ich wüsste nicht, wo ich mich niederlassen wollte! Gehe ich weiter, wird die Wahl noch unmöglicher: Da sind Berge, Täler, Flüsse, Seen, Küsten, Inseln - ich kann mich nicht entscheiden! Zu viel Schönheit, zu viel Herrlichkeit, als dass Menschen diese Orte alle bewandern, bewohnen und bewundern könnten.
Über uns die tägliche Lightshow der Wolken, Nebel, Sonne, Mond und Sterne. Jede Stunde eine neue Choreografie, täglich ein Unikat - ohne Protokoll, ohne Fotosammlung. Tausende von Jahren malt und gestaltet der Wind seine Bilder über unseren Köpfen - was für eine Verschwendung!
Am Bergbach trinke ich, wasche mich, fülle meine Flasche - er fliesst und fliesst. Ob ich davon nehme oder nicht. Ob ich da sitze und dem Rauschen lausche oder nicht. Auch nachts, wenn keiner da ist, fliesst er. Er floss schon gestern, vor einem Jahr, vor Jahrhunderten - das herrliche, glasklare Bergwasser verliert sich in der Unendlichkeit der Wasserläufe und wird trüb. Das ist Überfluss. Er redet zu mir, dass Leben in sich eine Fülle ist und sich masslos ergiesst.