Ohne Bild
Hier im Net kann man mit oder ohne Bild reden. Bilder sprechen stark – manchmal auch nur Schein. Aber in Texten finden wir eine interessante Geist-zu-Geist-Begegnung. Man fühlt zwischen den Zeilen, man begegnet dem Herzen, wahrer als Bilder sprechen können – jedenfalls diese flachen Bilder, die wir posten, die wenig mit unserer wahren Identität zu tun haben, als mit dem, wer wir gerne wären.
Mein Nebenjob als Telefonistin hat mich da gelehrt. Da war Frau Fischer am Draht, der ich jeden Kunden abschieben durfte, die mich, einen echten Grünschnabel, fröhlich unterstützte. Durch das Kabel kam fühlbar Leben in mich und Mut, es war schön ihre lachende Stimme zu hören, mit ihr verbunden zu sein, ohne ihr Gesicht zu kennen.
Es gab noch Herrn Fischer – interessant, dass sie den gleichen Namen trugen - der mich bei jeder Frage zurechtwies und keine Anrufe haben wollte. Er war der Verkaufschef. Immer hart und abweisend. Auch ihn sah ich nicht und kannte ihn nur durchs Telefon.
Aber da kam der Tag der Gesichtsoffenbarung: Frau Fischer war eine sehr dicke Frau, die nicht als Schönheitskönigin in Frage gekommen wäre, aber sie war meine Königin der Barmherzigkeit und ich liebte diese Schönheit. Sie war meine Rettung.
Und eines Tages kam Herr Fischer im perfekten Anzug, schlank und gross. Kaum sah er meine jugendliche Schönheit, fragte er mich interessiert, was ich sonst so mache.
Als er von meinem Studium erfuhr, erhellte sich sein Gesicht noch mehr und er schien mir plötzlich ergeben – ich staunte über diese enorme Wandlung. Mein Marktwert war im Bruchteil einer Sekunde in die Höhe geschnellt, nur durch mein Äusseres und meine Ausbildung. Ich war schockiert und beschämt.
Wir müssen einüben, hinter die Kulisse zu blicken, am Draht zu fühlen, die Augen zu lesen, statt das Make-Up und Outfit. Das ist im Net die grösste Herausforderung – und ich liebe es darum, selbst bildlos zu erscheinen.