Langeweile
Sie kam uns abhanden. Wir wissen nicht mehr, wie sie sich anfühlt und wozu sie nützlich war. Man stelle sich vor, wie an Winterabenden bis vor hundert Jahren die warme Stube einziger Aufenthaltsort war, vielleicht mit tickender Pendeluhr, knisterndem Feuer und als einzig sonst Bewegtes, die Mitbewohner, die vermutlich manchmal nichts mehr zu erzählen hatten und ihren Gedanken nachhingen – nachhangen mussten, denn da war sonst nichts. Musik musste man selber machen, Lesestoff war rar wie das Licht dafür, Handarbeit ein sinnvoller Zeitvertrieb, aber reiner Handaktivismus.
Unvorstellbar, einen Abend einfach zu sitzen. Wir kennen und können es nicht mehr. Zwei Tage im Grünen ohne Programm zwingt mich einen Halbstundenplan für meine Aufmerksamkeit zu machen: Kleiner Spaziergang, Schmetterlingsbeobachtung, freies Singen, Himmelsbeobachtung, Danksagung... – ich halte das Nichtstun eigentlich gar nicht aus. Die Zeit dehnt sich zu einer Ewigkeit! Es braucht die grösste Überwindung meines Lebens!
Wozu dient denn Langeweile? Das Rad hört auf zu drehen. Die Stimmen im Kopf verstummen – aber erst, nachdem die verdrängten Stimmen alles gesagt oder geschrien haben. Die Tiefen tun sich auf – meine Tiefen. Ich bin mit mir selbst konfrontiert – unverhüllt und entblösst zeigt sich mein Inneres, meine Substanz, die kleiner ist, als ich dachte. Hier entspringt das tiefe Bedürfnis nach Hinwendung, nach Begegnung. Hier beginnt eine andere Sphäre, die wohl schwer in Worte gefasst werden kann und hinterher so unglaublich kostbar wird: Es ist als würden aufgespaltene Teile unserer Persönlichkeit wieder zu Einem verschmelzen.
Was braucht es, um dem Tsunami der Unterhaltungsmöglichkeiten am Feierabend entgegenzutreten und ihm die Stirn zu bieten? Können wir uns vor dem Sog noch retten?
Einen einzigen Abend...